Karl Giesriegl
Severin
[Roman]
ISBN: 978-3-99028-080-5
Format: 19 x 12 cm
396 Seiten
€ 28,00
Der Roman erzählt von Hoffnungslosigkeit und Erschöpfung, von Menschen, die in einer der dunkelsten Epochen unserer Geschichte ums Überleben kämpfen. Er erzählt von streunenden Mörderbanden, die willkürlich töten, und teilnahmslosen Opfern dieser Gewalt. Sie töten die Familie eines Halbwüchsigen. Aus der Sicht des Jungen wird erzählt wie er verschont und von ihnen verschleppt wird. Er entkommt ihnen und irrt durch die menschenleeren Wälder Mitteleuropas, stößt auf eine Siedlung und erträgt ein langes Jahr Arbeitsdienst in einer Salzhöhle eingesperrt. Ein mysteriöser heiliger Mann, Severin, befreit ihn und der Junge macht eine schreckliche Entdeckung.
Noch nie wurde eine Heiligenlegende so zertrümmert wie in diesem Roman. Severin, der Heilige, ist nicht der erwartete Heilsbringer, sondern ein unverständlich predigender Gewalttäter.
Die Welt der Spätantike hat in dieser Erzählung nichts Geschichtsträchtiges oder Romantisches, sondern bietet kalten Schauer über vierhundert Seiten.
Diese Geschichte wurde vor 1500 Jahren schon einmal anders erzählt. Im Jahre 511, dreißig Jahre nach dem Tod des heiligen Severin von Norikum wurde sein Leben vom Mönch Eugippius aufgezeichnet. Severin wurde dadurch ein wichtiger Teil der historischen und kirchenhistorischen Überlieferung.
Was die Vita Sancti Severini verschweigt, oder was wir nur am Rande erfahren, wird hier zum Zentrum des Romans. Wo sich in der Vita Severini Kerzen entzünden, um das Licht der Erkenntnis zum Strahlen zu bringen, gehen in dem Roman Menschen in einer Feuersäule auf; eine moralische Belehrung durch den heiligen Severin wird zu einer biblisch motivierten Hinrichtung; Kranke werden nicht geheilt, sondern gequält; der Heilige bringt nicht Rettung, sondern Verderben …
Es sind zwei große Themen unserer Zeit, die im Roman Severin verhandelt werden: Das fünfte Jahrhundert gibt ein Beispiel dafür, wie eine Gesellschaft reagiert, wenn ihr die politische Führung verloren geht, und neue Kräfte das Vakuum füllen. Aber auch wie religiöser Fundamentalismus seine Anhänger als auch Opfer findet.
Der Junge steht bis zu den Knöcheln in einem Meer aus Asche. Schwarze Flocken wandern langsam über den Boden. Hinter ihm, keine zwanzig Fuß entfernt, schickt sie die Ruine seines Elternhauses auf die Reise. Hier die weiße Haut seiner nackten Füße, dort schwarze Pfosten, die als amputierte Stumpen aus der Erde ragen. Eine Ruine. Nicht mehr ist von dem nächtlichen Inferno übrig geblieben als ein Holzhaufen. Und still fallender Ascheregen, der sich langsam, viel zu langsam, über die Ereignisse der vergangenen Nacht schichtet. Die Männer waren in der Abenddämmerung gekommen, sie waren von ihren Pferden gestiegen und hatten ihre Satteldecken ausgeschüttelt. Dann hatten Sie den Hof überfallen und ihn in Brand gesetzt. Dunkle Silhouetten auf ihren Pferden als ein Nicht und Wieder über den Hügeln, als schmale, zu riesenhaften Gestalten längs gezogene Flecken hatten sie sich herangeschoben. Jetzt liegen die Männer vor den glosenden Resten eines Lagerfeuers. Der Junge vermeidet den Blick auf das Haus oder auf das Lagerfeuer und schaut zu Boden. Er steht da, die Arme um seine Brust geschlungen, das Zittern, das seinen schmächtigen Körper überzieht, unterdrückt er mit geballten Fäusten. In seinem trockenen Hals droht ein Husten. Seine Beine sind frosthart und ohne Gefühl. Er zupft mit eisigen Fingern an seiner Hose und öffnet ganz langsam die Kordel am Bund. Mit seiner rechten Hand schlüpft er darunter und reibt seine Oberschenkel, die Hand richtet auf der Haut seiner Beine wenig aus. Auf der sandfarbenen Hose ist ein dunkler, sich nach unten verjüngender Streifen zu sehen, Urin, der über seine Beine gelaufen ist. Dazwischen eine grasgrüne Stelle auf dem Knie. Die Erinnerung an das Spiel mit seiner kleinen Schwester stemmt sich ins Heute. Gestern. Ein Vogel begrüßt den neuen Tag und verstummt kraftlos. Der Junge steht im Licht, das der Morgen den Gipfeln der Berge überstreift, aber auch die Morgensonne verblasst, nachdem sie einen Strahl durch die Blätter der herbstgelöcherten Bäume schickt, der einen Tropfen Schweiß auf die Stirn des Jungen malt. Er wischt den Schweißtropfen von seiner Schläfe, bevor er sich anfühlt wie eine Träne. Der Junge hält den Kopf nach vorn gebeugt und zeichnet mit seinen Füßen ein Muster in die Asche, ein Kreis, darüber ein Kreuz, das diesen viertelt, dann der Kreis geflickt, ein erneutes Kreuz, in erschöpfender Regelmäßigkeit, in endloser Wiederholung. Schwarzer Auswurf bedeckt seine Zeichnung. Er ist die ganze Nacht hier gestanden. Die Nacht ist so finster gewesen, dass darin die Düsternis versank wie der leblose Körper seines Vaters im gehäuften welken Laub. Sein Vater, eine knochenlose weiche Masse im Laub.
Über die Füße des Jungen huscht eine Ratte. Das Tier flüchtet aus der leise knisternden Ruine. Es hatte in seinem Versteck ungewöhnlich lange ausgehalten und wurde vielleicht von den Geräuschen im trockenen Gebälk aufgescheucht, oder es hatte eine bloße Ahnung, die es in Unruhe versetzte. Etwas gehört, als es noch nicht geschehen war. Für die Flucht hat das Tier den schnellsten Weg gewählt, vorbei an kleinen Brandherden, die die Ruine am Leben erhalten, ziellos und geradeaus über die Füße des Jungen. Ein kurzer erschrockener Pfiff, als es durch die Körperwärme des vermeintlich unbelebten Objektes hindurch ein Wesen ausmacht. Für einen neuen Kurs ist es zu spät, das Tier verschwindet im Gebüsch. Damit ist das Haus endgültig unbewohnt. Der verkohlte Leib des alten Knechtes liegt unter dem glänzenden Schwarz des Holzes begraben. In der Nacht hatte er sich im Haus versteckt. Aus einem engen Schrank heraus versuchte er mit seiner Sense den tödlichen Schwerthieb abzuwehren. Im Licht des Mondes die Gesichter seiner Mörder. Ein wuchtiger Schlag mit einem geschliffenen Langschwert durchtrennte den Stiel der Sense und fuhr geradeaus in den Unterarm seines Opfers. Zuerst fiel die Sensenklinge, gefolgt vom amputierten Arm mitsamt dem umklammerten Stielende, zuletzt fiel der Körper des Alten, alles begrabend, darüber. Der Alte starb und einer seiner Mörder pfiff leise eine Melodie.
Der Junge sieht einen der Männer am Feuer erwachen. Der Mann steht auf und die scharf gezeichneten Schatten des Zwielichts verwandeln sein Gesicht. Eine fremdartige Schreckgestalt, ein Kopf aus Baumrinde, eine Tätowierung auf seinem Schädel huscht als chaotisches Zeichen durch die Dämmerung. Er stampft mit den Füßen auf. Das Lagerfeuer verpufft langsam mit orangem Schimmer in den Tag. Er schaut auf die schwarze Baumreihe hinter den Resten des Hauses und wartet. Er geht in die Knie und wippt mit den Füßen, er macht einen Schritt nach hinten. Rückwärts tanzt er rund um das Feuer und steigt dabei schwerfüßig über seine Kumpane. Er tritt auf erkaltete knisternde Glutstücke und bleibt stehen. Er schaut nochmals auf die Bäume, sie haben sich nicht verändert. Der Mann streckt eine lange Eisenstange in die Höhe. Sie verschwindet über seinem Kopf in einer tief hängenden Rauchschwade. Im Lagerfeuer birst ein feuchtes Stück Holz und schlägt Funken. Er lässt die Stange sinken, legt sich ans Feuer und schläft weiter. Ein leichter Windstoß wirbelt Asche auf und wirft sie lautlos über die schlafenden Männer. Alle Farben sind ausgelöscht, das Grau reicht bis an den Zaun und weht darüber hinaus dunkle Streifen auf die herbstlichen Wiesen rund um das einsame Gehöft. Selbst das blaue Kleid seiner Mutter ist grau geworden. Es liegt zwischen ihm und dem Lagerfeuer der Männer. Feuchte Holzscheite platzen in der Glut, springen auf die Schürze, löchern sie und färben einen braunen Hof herum. Der Junge hebt den Kopf. Ein stechender Schmerz flutet über seinen Rücken. Oben auf der Anhöhe, an den Fässern, die Regenwasser sammeln, lehnt ein Wachposten und kaut müde an einem Zweig.
Der Schlapphütige. Der Junge hat dem Wachposten einen Namen gegeben. Der Junge formt das Wort auf seinen Lippen. Ein Name dafür, dem Unfassbaren über seine eigene Realität ein Kerbzeichen zu setzen. Eine Markierung.
Der Schlapphütige.
In der Nacht hatte sich der Schlapphütige vom Lagerfeuer erhoben und langsam zu ihm bewegt. Er beugte sich über ihn und kam dabei so nahe, dass der Hut ihnen ein Dach bot. Das rotglosende Haus malte Feuerzeichen auf seine Wangen. Mit offenem Mund kaute der Mann an fauligen Kräutern. Der Gestank verschlug dem Jungen den Atem. Die Lippenbewegung war geräuschlos. Der Mann starrte ihm eine Weile ins Gesicht. Dann machte er zwei Schritte nach hinten, breitete in einer Reihe Messer auf dem Boden aus und murmelte einen Abzählreim. Er griff nach dem längsten Messer, trat nach vorn und fuhr dem Jungen damit an die Kehle. Die Klinge drückte er an die Haut des Jungen, bis sie aufplatzte. Der Junge spürte keinen Schmerz. Der Mann hörte auf zu kauen, spuckte die braune Masse neben die Füße des Jungen und betrachtete seinen Auswurf. Mit der freien Hand wischte er den Ärmel über seine Lippen.
Er rührte sich nicht ein Stück von der Stelle.
Dann zog er sein Messer vom Hals zurück und deutete mit der Spitze nach oben.
Der Himmel in den Bergen. Da waren lange Reihen. Reihen von Zeichen. Die waren größer hier in den Bergen. Ob er sie lesen konnte.
Er erwartete keine Antwort und blickte nach oben. Es dauerte eine Weile, bis er den Blick wieder senkte. Er musterte das Gesicht des Jungen und atmete einmal ein und aus.
Er werde sich diesen Himmel mal genauer ansehen. Und er bewegte sich inzwischen nicht.
Der Schlapphütige klammerte Zeigefinger und Daumen zusammen. Dann betrachtete er sein Messer und strich mit dem Rücken des Fingers über die Schneide, dabei zog er den Tropfen Blut ab, der vom Schnitt darauf verblieben war, streckte den Finger in die Höhe und betrachtete ihn von allen Seiten. Er wischte das Blut in seine Achselhöhle und verstaute seine Messer in einem dunklen Lederumschlag. Passend zu den Längen der Messer waren Taschen in den Umschlag genäht. Einzeln schob er sie hinein und suchte dabei die Augen des Jungen. Der Junge starrte zu Boden.
Die geflügelten Wesen der Nacht führten auf ihrem Himmelsritt ihr zyklopisches Augenspiel auf.
Der Junge regte sich nicht.
Ihm gefiel der Himmel des Jungen.
Der Schlapphütige warf den Umschlag über seine Schulter und beachtete den Jungen nicht weiter. Er richtete sich auf, machte ein paar Schritte ans Lagerfeuer und starrte hinein, beugte er sich nach unten, wählte einen halbverbrannten Ast aus, hob ihn aus dem Feuer und stieg die Anhöhe hinauf. Oben angekommen, steckte er den Ast vor sich ins Erdreich. Ein wenig Licht fiel auf sein Gesicht, er ließ er sich im Schneidersitz nieder, legte seinen Kopf in den Nacken und spähte in die Luft. Sein Körper war eine Welle in der Kimmung der Nacht. Der Junge flüsterte ein Wort.
Schattenmänner.
Den Namen gab er ihnen. Als Schattenmänner waren sie in der letzten Nacht aufgetaucht. Wie viele Männer es waren, hatte er nicht gezählt. Plötzlich waren sie da gewesen. Über die Hügel kamen sie geritten, die Wellenerden, die hinunter in die Ebene führten.
Die Schattenmänner, die Wellenerden.
Er sammelte die Worte. Später, viele Jahre später, wird ihm der heilige Mann erklären, dass die Benennung der Dinge das Grundsätzliche war.
Der Name ist die Grundlage aller Dinge. Das Geheiligte fand seinen Ort, wenn es in seinem Namen Verankerung erfahren hatte. Wenn man das Heilige unterdrückte, und war es nur in Gedanken, zerstörte man die Ordnung. Unordnung war keine göttliche Zuschreibung. Gott duldete das nicht. Gottes Ziel war die Rückführung des Chaotischen in die göttliche Ordnung.
Die Männer ritten heran, untermischt in die einbrechende Nacht, die so lange war, dass sich der Junge im Wanken kein Morgengrauen mehr erträumte. Männer auf Pferden, sie hatten davon gehört, Männer, die durch die Gegend streiften. Nein, sie kämen nicht hierher in die Berge, hatte seine Mutter beruhigt, nein, nein, hierher verirrten sie sich nicht, was gäbe es hier auch zu holen, aber unten, in der Ebene, an der Donau, dort brannten sie die Höfe nieder, töteten die Tiere, nahmen nur die wertvollen Pferde mit sich und zogen weiter. Von solchen Männern hatte man gehört, sie tauchten auf und verschwanden. Wie viele solche Banden es gab. Seine Mutter seufzte.
Es wurden wohl immer mehr.
Ein Stoß und der Junge geht zu Boden. Noch bevor er mit seinem Körper aufschlägt, wird er erneut hochgehoben. Ein kräftiger Arm packt ihn, stemmt ihn in die Höhe und stellt ihn auf die Füße. Ein heller Schmerz durchzieht seine steifen Beine. Er muss eingeschlafen sein, im Stehen. Vor ihm steht ein Mann und streicht seine Kapuze vom Kopf. Er beugt sich nach unten und zeigt sein langes Gesicht. Weiße Wimpern und ein blonder Bart. Jetzt, wenn er den Jungen umrundet, und die Sonne direkt in sein Gesicht scheint, sind Bart und Brauen beinahe unsichtbar. Das Gesicht ist hell, bis auf rote Flecken die Stirn und Wangen bedecken, ein trockener Ausschlag, an den Rändern lösen sich Hautpartikel. Am Handrücken, der direkt vor dem Gesicht des Jungen auftaucht, gleißen weißblonde Haare im tiefen Morgenlicht, eine gelbe Löwenpranke. Ein Löwenprankiger.
Vielleicht wollte der Junge einen dieser Steine aufheben und ihm reichen.
Der Mann zeigt auf einen Haufen flacher Flusssteine, die vor seinen Füßen aus der weichen Aschenerde schimmern. Der Junge greift nach einem Stein, hebt ihn hoch und reicht ihn dem Mann. Der Löwenprankige wiegt den Stein in der Hand und schaut dabei auf den Weg, der hinunter zum Teich führt.
Ob er sie selbst nach oben geschafft hatte.
Er untersucht den Stein von allen Seiten. Dann nickt er nachdenklich.
Sie waren ja nicht hier gewachsen.
Der Junge schaut zu Boden und bleibt stumm. Der Löwenprankige gibt ihm den Stein zurück.
Ein Luxus war das, diese glatten und flachen Steine. Der Junge sollte ihm den Platz zeigen, an dem er sie gefunden hatte. Sie könnten ein paar Steine übers Wasser fliegen lassen.
Er umfasst die Schulter des Jungen und schiebt ihn weg von der Feuerstelle, von den anderen Männern, von seinem Zuhause und seiner toten Familie.
Er sollte gefälligst den Jungen in Ruhe lassen.
Die Stimme kommt vom Feuer. Der Junge schaut hoch. Die Flammen sind heruntergebrannt. Rundherum hocken ein paar Männer mit ausdruckslosen Gesichtern und stieren ins Feuer. Dazwischen liegen ihre Sachen in einem heillosen Durcheinander. Der Dunst alter Fettspritzer liegt in der Luft. Die Pferde stehen gesattelt und mit einfachem Zaumzeug aus schmutzigen Seilen oder Lederbändern irgendwo festgebunden. Am Morgen hat der Junge die Tiere in der kleinen Koppel beobachtet, die in müden Schritten an ein paar Grashalmen zupften. Jetzt haben sie aschgrau gefärbte Decken am Rücken und schielen mit geweiteten Augen auf die Männer. Ein kleiner Wallach ist hochgesprungen und so unglücklich auf dem Zaun gelandet, dass ein Vorderlauf über dem Querbrett zu liegen kommt. In einem früheren Kampf ist sein Schwanz abgetrennt worden, und ein schorfiges Abszess bedeckt sein Hinterteil. Als er sich in wilden Sprüngen zu befreien versucht, dringt das raue Holz tiefer in seine Flanke. Das Tier schreit, und seine Augen drohen vollends aus dem Kopf zu platzen. Einer der Männer wagt sich zum Zaun und erlöst das Tier. Es schlägt einmal aus, der Mann duckt sich, dann macht es einen Sprung zur Seite und stößt die anderen Tiere in der engen Koppel an.
Ob er nicht gehört hatte.
Der Befehl kommt von einer zwergenhaften Gestalt, nicht viel größer als der Junge. Der Zwerg sitzt am Boden vor dem Lagerfeuer und sein Schatten ist im Morgenlicht doppelt so lang wie er selbst. Er blickt kaum auf, während er spricht. Sein Gesicht ist unter einer ledernen Kappe versteckt. Sie ist mit Nähten doppelt verstärkt. Er schiebt seinen staubigen Mantel, in den er seine breite Gestalt gehüllt hat, nach oben und legt die weiße Haut seiner muskulösen Beine frei. Von seinem Oberschenkel wickelt er einen von getrocknetem Blut getränkten Stofffetzen, darunter eine langgezogene Wunde, eine einzige tiefblaue Wucherung, mit dunklem Blut. Er wirft den Lappen neben sich auf den Boden. Ein Geräusch stört sein Tun. Er schaut auf, und sein Blick bleibt an einem Mann haften, der sich in der Koppel zu schaffen macht. Der Mann klopft den Staub von einer Schabracke und verheddert sich dabei in seinem grünen Umhang. Er wirft die Schabracke über einen Balken, der von einem Stützpfosten schräg in den Boden führt, nimmt langsam seine grüne Filzkappe vom Kopf und legt sie neben die Pferdedecke, die Farbe ist unter der Staubschicht kaum erkennbar. Zwei spitze Aufsätze an den Seiten stehen wie Luchsohren davon ab. Der Mann ist schmächtig und nicht sehr groß. Den Rock hält ein Leinengurt, an dessen Seite ein Kurzschwert mit einem bemalten Holzgriff baumelt. Er befreit sich umständlich aus der Verstrickung, schiebt das Kurzschwert zur Seite und zieht einen Span aus der Schließe am Tor. Er hebt seinen Kopf, als er den Blick des Zwergs auf sich ruhen spürt. Seine Augen, grün. Er deutet auf das nackte Bein und spricht ihn an.
Seine Wunde sah gar nicht gut aus.
Er sollte sich vielleicht um seinen eigenen Dreck kümmern.
Das sah er doch, dass er sich um sein eigenes Zeug kümmerte. Aber wenn ihm jemand, kein Husten entfernt, seine blutigen Schenkel entgegenstreckte, dann ging ihn das etwas an.
Es war ja nicht sein Schenkel.
Nein, nicht sein Schenkel. Aber sein Blickfeld.
Dann sollte er sich eben ein anderes Blickfeld suchen.
Der Luchsige nimmt die Kappe vom Balken und setzt sie vorsichtig auf. Dann zwirbelt er mit seinen Fingern die Spitzen, bis sie nach oben abstehen. Er schüttelt seinen Kopf, um zu prüfen, ob die Kappe hält. Er nickt.
Das war gar nicht so leicht. Ein blutiger Schenkel suchte sich den Mittelpunkt ganz von selbst.
Verdammt noch mal, das ging ihn nichts an.
Alles klar, er hatte genug zu tun, die Pferde waren unruhig, er beruhigte sie, die Wunde sah trotzdem nicht gut aus.
Der Zwerg hört nicht mehr zu und wendet sich an den Löwenprankigen.
Er sollte den Jungen zufrieden lassen, hatte er gesagt.
Der Löwenprankige bewegt sich nicht und behält seine Hand an der Schulter des Jungen. Der Luchsige kratzt seinen Kinnbart und mischt sich ein.
Warum erschlugen sie den Knirps nicht einfach.
Er geht den Zaun entlang, wirft ein Seil um den Hals seines Pferdes und lotst es zum Auslass. Er öffnet das Tor und scheucht die anderen Pferde nach hinten, führt sein Pferd heraus, schließt das Tor mit seinen Beinen, steckt den Span in den Riegel und bindet das Pferd an einen Pfosten, der frei vor der Koppel steht. Die Schabracke wirft er über den Pferderücken. Das Pferd macht einen Satz in die Luft und die Decke rutscht über die andere Seite in den Dreck.
Verdammtes Tier.
Der Luchisge packt das Pferd an der Mähne und drückt seinen Kopf zu Boden. Das Pferd wehrt sich. Nach dem stummen sinnlosen Kampf läuft er herum, duckt sich unter das Seil und beugt sich nach der Decke. Der Zwerg lässt den Blick vom Luchsigen.
Die Zahl gefiel ihm. Zwölf. Mit dem Jungen waren sie zu zwölft. Biblisch. Das war eine runde Sache. Sie könnten den Jungen mitnehmen.
Der Löwenprankige packt den Jungen am Nacken und dreht seinen Kopf zu sich.
Der Kleine sah ihm eher nach einer halben Sache aus.
Der Zwerg beachtet ihn nicht und berührt mit seiner rechten Hand gleichzeitig Daumen und die Spitze seines kleinen Fingers auf der Linken. Dabei zählt er stumm die Glieder der Finger, bis er die Zwölf erreicht.
So was gefiel dem heiligen Mann. Zwölf, die Zahl der Vollkommenheit, er hatte seine Sachen immer gerne komplett.
Der Luchsige lässt die Decke liegen, wo sie ist, und lugt hinter dem Pferdekörper hervor.
Das hatte der heilige Mann gesagt.
Der Griff des Löwenprankigen lockert sich. Der Griff war alles, was den Jungen auf den Beinen gehalten hat, er sackt zu Boden. Der Zwerg greift in eine Tasche und entnimmt daraus einen Beutel, stülpt das Leder um, und eine sichelförmige Nadel aus Tierknochen und Bindfäden fallen heraus. Er nimmt die Nadel und hält sie ins Licht. Das Ende eines Fadens führt er durch den Haken der Nadel, dann misst er den Faden auf einen Ellenbogen Länge und beißt ihn mit seinen Zähnen ab.
Nicht genau mit diesen Worten. Aber der heilige Mann hatte es mit Symbolen.
Der Luchsige wirft dem Löwenprankigen einen Blick zu, zuckt mit den Achseln und sattelt sein Pferd.
Wann hatte er mit dem heiligen Mann gesprochen.
Der Zwerg streckt die Nadel nach oben, der Faden fällt glatt nach unten, er presst die Lippen zusammen und macht den ersten Stich.
Das war bereits eine Weile her.
Weitere Männer treten ans Lagerfeuer, wärmen ihre Hände und beobachten das Geschehen.
Seine Wunde war schwarz geworden über die Nacht.
Ein Mann in einem vom Staub stumpf gewordenen Ledermantel lässt sich direkt neben dem Zwerg nieder. Eingefasst wird der gewaltige Umhang von Federn eines Vogels. In seinen Armen trägt der Mann ein rosa Ferkel, dem er sanft über den Kopf streichelt. Das Tier lässt es sich gefallen. Das Gesicht des Mannes ist bleich.
Schmutzig. Die Wunde war auch schmutzig.
Er konnte gerne seine Meinung für sich behalten.
Das sah nicht gut aus.
Sie blutete.
Was sie denn glaubten, was er hier machte. Das sah ja nicht aus, als ob er sich ein neues Kleidchen nähte. Oder. Sie sollten endlich von hier verschwinden.
Sie waren bereit.
Sie warteten bloß auf ihn.
Einer der Männer gesellt sich zu dem Mann mit dem Ferkel im Arm, beugt sich nach unten und streicht dem Tier mit seinen Fingern über die Schnauze.
Er hatte Hunger. Viel zu fressen gab es hier nicht.
Der andere drückt das Schwein an seine Brust.
Es war an der Zeit umzukehren.
Genau. Hier gab es überhaupt nichts zu holen.
Wie sie überhaupt auf diese Idee kommen konnten, in die Berge zu reiten.
Sein Appetit verging ihm, wenn er dem Zwerg noch länger zusähe.
So fiel das Fasten leicht.
Der Schlapphütige hat seinen Wachposten neben den Regenfässern verlassen und steigt langsam über die Anhöhe herunter. Er tritt heran und stochert mit seinen Fußspitzen im Glutnest.
Ob er wirklich den heiligen Mann gesehen hatte.
Der Zwerg antwortet nicht. Ein angeschwollener Hautlappen bildet eine Wulst um die Wunde. Der Zwerg holt Luft und sticht die Nadel in die Mitte, durchbohrt das Fleisch und zieht die Nadel an der Spitze heraus, bis der Faden gespannt ist.
Wie hatte er diesen Schnitt abbekommen.
Der Kopf des Zwergs geht hoch und nickt in Richtung des Jungen.
Da fragte er besser den Vater des Kleinen.
Der Junge hat sich aufgerappelt und steht etwas entfernt mit gesenktem Kopf, die Hände zu Fäusten geballt.
Mutige Leute, hier in den Bergen.
Der Zwerg setzt zum nächsten Stich an. Endlich beißt er mit seinen Zähnen den Faden durch und sieht sich suchend um. Er dreht sich nach hinten. Zusammengekauert und eng umschlungen liegen dort zwei Mädchen. Der Junge hat sie bisher noch nicht bemerkt, die Männer müssen sie mitgebracht haben. Er kann sie in der Asche nicht gut erkennen. Weicher Flaum bedeckt ihre Kleidung. Die Köpfe haben sie einander zugewandt und blasen den Ruß aus ihren Gesichtern, bevor er in ihre Nase dringt. Ihre Haare sind zerzaust, zeigen aber noch Reste von aufwendig geknüpften Zopffrisuren. Überall auf ihren Armen und Beinen haben sie kleine Verletzungen und Schnitte. Die kleinere der beiden hat einen langen blutigen Striemen am Rücken. Als der Blick des Zwergs auf sie fällt, schließen sie fest die Augen. Er mustert die beiden Mädchen und spricht in den nassen Ascheregen.
Er hatte schon geglaubt, sie hatten sich aus dem Staub gemacht, wie diese Derwische in den Erzählungen aus Arabien, die sich drehten und in die Luft abtanzten.
Er packt eines der beiden Mädchen am Bein. Sie klammert sich wimmernd an das andere Mädchen. Der Griff des Zwergs wird stärker. Sie schreit auf, als er sie zu sich schlenzt. Ihre Kleider bauschen sich um ihren zierlichen Körper wie Fittiche eines flügelschlagenden Vogels. Er streicht mit seinen breiten Fingern zärtlich über den feinen Saum ihres Kleids. Das Mädchen schützt mit den Armen ihren Kopf.
Sie gab ihm doch etwas von ihrem wunderschönen Kleid ab, oder etwa nicht.
Ein Messer taucht in seiner Hand auf und bevor sich das Mädchen mit einem Schrei auf die Seite wirft und nach hinten springt, hat er einen Streifen von ihrem weißen Kleid abgetrennt. Er hebt ihn als Trophäe hoch und führt ihn unter seine Nase.
Oder hatte sie da draufgepisst.
Er wickelt den Streifen um seine Wunde und knüpft aus den abstehenden Enden einen Knoten. Die Spitze der Nadel wischt er in das Tuch, verpackt sein Operationswerkzeug, verstaut es in seinem Beutel, und mit einem Satz steht er auf seinen Beinen, spuckt aus, schiebt mit seinen Füßen ein Stück Holz ins Feuer und tritt aus dem Kreis der Feuerstelle. Die Männer bilden eine Gasse. Der Zwerg öffnet das Tor zur Koppel, packt eines der Pferde an der Mähne, wirft eine Decke über den Pferderücken, steigt auf eine Querlatte im Zaun und gleitet mit einem Schwung auf das Pferd. Oben breitet er seinen Beutel über den Nacken des Pferdes und verlässt die Einzäunung. Der Löwenprankige stützt seinen Arm auf die schmächtige Schulter des Jungen.
Das Bübchen. Da stand noch das Bübchen.
Der Zwerg wendet sein Pferd, treibt es zu den beiden und schaut sich um.
Er sollte den Kleinen zu irgendwem aufs Pferd setzen.
Der Löwenprankige spuckt auf den Boden.
Hatte der Junge kein eigenes Pferd.
Der Löwenprankige stößt den Jungen an.
Er hatte ihn gefragt, ob er ein Pferd hatte.
Der Junge bewegt sich nicht. Der Mann mit dem Schwein im Arm reitet heran und deutet auf das Tor des Gehöfts.
Hinter der braunen Hecke dort stand noch ein alter Ackergaul, den sie gestern entdeckt hatten, der war ihnen selbst zum Fressen zu alt.
Der Löwenprankige boxt dem Jungen mit der Faust an die Stirn.
Er wollte den Gaul wohl vor ihnen verstecken.
Der Zwerg gibt seinem Pferd die Fersen.
Dann sollte er eben darauf reiten.
Der Mann mit dem Schwein beugt sich über den Nacken seines Pferdes.
Jetzt hatte er ein eigenes Pferdchen bekommen, so gut war es ihm nicht immer ergangen, so gut wie bei ihnen.
Der Löwenprankige schiebt den Jungen zur Koppel und deutet auf eine lumpige Decke. Der Junge nimmt sie von der Umzäunung und gemeinsam gehen sie durch das Tor zu den Sträuchern der Hecke. Der Junge holt dahinter das Pferd hervor und wirft das steife Tuch über den Rücken des Pferdes. Dann kehren sie zurück. Ein einfacher lederner Bocksattel mit aufstehenden Zuspitzungen, der um zwei Holzlatten gewickelt ist, liegt am Boden. Der Junge sieht den Mann fragend an. Der Löwenprankige nimmt den Sattel, wirft ihn auf die Satteldecke und schnürt ihn mit einem Riemen am Bauch des Pferdes zusammen. Der Junge folgt mit den Augen seinen Bewegungen. Der Löwenprankige hebt den Jungen hoch und setzt ihn auf das Pferd. Mit seiner Hand streicht er sanft über den Pferdehals, tastet dem Pferd an die Nase und tätschelt vorsichtig die Nüstern. Er öffnet das Maul des Pferdes und befühlt mit seinen Fingern die Lefzen. Den schaumigen Speichel verreibt er zwischen seinen Fingern, nimmt ein Seil, knüpft es zu einer Schlaufe und bindet es um die Pferdenase, verknotet es und zieht an den Enden. Dabei spricht er fortwährend mit dem Pferd. Er wiegt das Seil, misst die Länge und wirft das Seil dem Pferd um den Hals. Dann drückt er die Schlaufe des Seils dem Jungen in die Hand.
Mit dem elenden Gaul kam er sowieso nicht weit.
Sie ritten los. Sie trieben ihre Pferde weg von der glosenden Feuerstelle. Die Wärme erreichte den Jungen nicht. Über dem Feuer das Undenkbare, das Unvorstellbare, das Unwirkliche eines verkohlten Fleischfetzens, der eiternd vom Spieß hing. Aber der Junge ließ diesen Rumpf nicht an seine Sinne, den süßlichen Geruch, das Zischen der weißen Schliere, die im Feuer ein ockerfarbiges Auge bildete. Die öligen weißen Knochen, die aus dem Batzen schimmerten, ließ er nicht durch die Blase, die ihn umhüllte. Dieser Körper nahm nicht teil am Geschehen, war ein entferntes Bild, das sich einem fremden Betrachter aufnötigte. Nicht ihm. Nein, niemals. Eine Schimäre, ein Trugbild, das Reiter in der Wüste täuschen konnte. Dieses Abbild hatte nichts mit dem Menschen zu tun, der gestern von den gesammelten Walnüssen die größte und schönste auswählte und diese so vorsichtig aufbrach, dass er zwei unverletzte Schalen erhielt. Zwei Schalen einer Walnuss für seine Flotte, mit der er die Schlachten der Griechen am Teich nachstellte. Griechenschiffe mit geschwärzten Schiffsplanken. Nein, das alles hatte nichts mit seiner Mutter zu tun, die ihm die Geschichten über die Seefahrer erzählt hatte, es hatte nichts mit der Mutter zu tun, die eine Hälfte der Nuss in seinen Mund schob, die andere selbst nahm, sie in die Höhe warf, geschickt mit geöffnetem Mund auffing, die Augen schloss und zubiss. Seine Mutter, die in einer beiläufigen Bewegung liebevoll an seine Wange fasste, der gelbliche Schein der wärmenden Finger, die sanfte Rundung der Fingerkuppen. Und plötzlich wusste er nicht mehr, ob sie da war, seine Mutter, ob sie jemals da gewesen war, er ließ sie los, ließ ihren verunstalteten Körper zurück, wie auch jede Erinnerung an sie. Er ritt am Feuer vorbei, und das Feuer war kalt.
…